Theoderichstrophe
Geschichte und Geschichten aus Skandinavien
Runenband

Der Rökstein - Weltliteratur in Stein gemeißelt


Rök Kyrka mit Rökstein

Der Rökstein bei der Kirche von Rök

Wohl keine andere unter den weit über 6000 heute bekannten Runeninschriften hat die Forscher mehr fasziniert und beschäftigt als die Inschrift auf dem Rökstein im schwedischen Östergötland. In einer Zeit des aufkeimenden Interesses der Schweden an ihrer historischen Vergangenheit, wird er im Jahre 1624 vom Runenforscher Johannes Bureus erstmals erwähnt. Der Stein ist zu der Zeit in der Wand des Zehntstadels bei der Kirche von Rök eingemauert. Die älteste noch erhaltene Abbildung ist ein Holzschnitt, den der Runenforscher Johan Hadorph bei seinem Besuch rund 50 Jahre später anfertigt. C.F. Broocman schreibt 1760 in seiner Beschreibung von Östergötland: "An alten Denkmälern ist draußen in der Kirchstallmauer ein Runenstein eingesetzt, der völlig unbegreiflich und unlesbar ist". Erst als die alte Kirche 1843 mitsamt dem Zehntstadel abgerissen wird, entdeckt man, daß der Stein auf allen Seiten mit Runen beschrieben ist. Beim Bau der neuen Kirche wird er in der Vorhalle eingemauert, doch schon 1862 wieder herausgeholt und nahe der westlichen Friedhofsmauer aufgestellt. Im Jahre 1933 wird der Stein schließlich an seinen heutigen Platz direkt außerhalb der südlichen Friedhofsmauer überführt.

Mit der Befreiung aus der Kirchenmauer 1862 beginnt auch die wissenschaftliche Erforschung des Röksteins. Aber erst 1910, mit der Herausgabe der Abhandlung "Der Runenstein von Rök" des Norwegers Sophus Bugge, ist die sprachliche Übersetzung weitgehend vollendet. Seitdem sind unzählige wissenschaftliche Abhandlungen und Übersichtswerke über den Rökstein erschienen, von Erwähnungen in archäologischen Werken, Büchern über Östergötland sowie Zeitungsberichten und populärwissenschaftlichen Werken ganz zu schweigen. Mit ihren über 750 Runenzeichen ist die Inschrift die längste bekannte Runeninschrift der Welt, was wohl eine der Erklärungen für das Interesse an dem Runenstein sein mag.

Südschweden

Die meisten Forscher sind sich heute einig über das Alter der Rökinschrift. Runologische und sprachliche Erwägungen führen zu einer Datierung in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Auch die inhaltlichen Deutungen der Inschrift stehen damit im Einklang.

Aber über die Frage des Alters hinaus gibt es auch nach rund 150 Jahren teils intensiver Forschung noch ungelöste Rätsel um den Rökstein. Die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren, so manches wird Spekulation bleiben. Gerade dies macht den Rökstein immer noch so interessant. Im folgenden möchte ich die Inschrift anhand einiger interessanter, teils sehr spekulativer Deutungen vorstellen. Es sind lediglich ein paar Beispiele von vielen, die jedoch eindrucksvoll verdeutlichen, zu welch unterschiedlichen Interpretationen die Inschrift auch heute noch einlädt. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Deutungsrichtungen und ein ausführliches Literaturverzeichnis finden sich in DÜWELs Runenkunde.


Rökstein Vorderseite
Ög 136 - Der Rökstein, Vorderseite

Der Autor und seine Widmung

"Zum Gedenken an Vämod stehen diese Runen. Aber Varin schrieb sie, der Vater, zum Gedenken an den todgeweihten Sohn."

Varin stellte den Stein auf, zum Gedenken an seinen Sohn Vämod. Diese schlichte, einleitende Gedenkformel ist mit ungewöhnlich großen Runen geschrieben, mit denen Varin deutlich macht, daß es sich hier um ein Denkmal für den toten Sohn handelt (GUSTAVSON). Danach folgt eine Reihe von Aussagen, die uns heute nur noch dunkel andeuten, was Varin wohlvertraut war. Einen Teil seiner Botschaft hat Varin mit Hilfe von Verschlüsselungen und Geheimrunen verborgen. Er besaß ausgezeichnete Kenntnisse über den Aufbau des Futhark, des nordischen Runenalphabets, er kannte die Plazierung der Runen in der urgermanischen Runenreihe. Das meiste hat er jedoch mit den in Schweden seit dem späten 8. Jahrhundert gebräuchlichen Kurzzweigrunen geschrieben, die stellenweise in einem allitterierenden Versmaß über Sagen berichten, die wahrscheinlich im 9. Jahrhundert in der Gegend um Rök wohlbekannt waren.


Die zwei Kriegsbeuten

"Ich sage diese Volkssage, welche die zwei Kriegsbeuten waren, die zwölf mal als Kriegsbeute genommen wurden, beide auf einmal, von Mann zu Mann."

Varin erzählt von zwei herausragenden Beutestücken. Wie aus der nachfolgenden Aussage hervorgeht, wurden sie bei den Reidgoten genommen, was von Varin als ehrenwerte Handlung dargestellt wird, würdig als Einleitung zu den Erzählungen auf der Vorderseite des Steins genannt zu werden. Wahrscheinlich ist Varin der Auffassung, daß einer seiner Vorväter zu den gesammelten Kriegsbeuten beigetragen hat. Vielleicht hatte Varin in seinem Besitz ein Familienerbstück, von dem man annahm, es sei identisch mit der Kriegsbeute. Die Erzählung war dann mit dem Gegenstand verknüpft und die Tradition dadurch fortgesetzt (PETERSSON).

OHLMARKS spekuliert, daß es sich dabei um die beiden Kleinode par excellence aus den alten Legenden handelt, den Ring und das Schwert aus der Völsungen-Saga, die tatsächlich zwölf mal von Mann zu Mann wanderten, jedes mal den Tod bringend: Von Völund über Nidud, Vittka, Andvare, Loki, Hreidmar, Fafnir, Sigurd (= Siegfried), Gunnar, Atle (= Attila, Etzel), Jonaker und Hamder schließlich zu Ermanarik und den Goten. Mit der nun folgenden Aussage beginnt Varin über die Goten zu erzählen.


Die Reidgoten

"Ich sage als das zweite, wer vor neun Generationen sein Leben bei den Reidgoten verlor, und er starb bei ihnen als Folge seiner Schuld."

In der zweiten Aussage der Vorderseite wird indirekt enthüllt, bei wem die Kriegsbeuten gewonnen wurden. Während der Kämpfe im ostgotischen Reich dürften zahlreiche Krieger gefallen sein, und deshalb muß der, der vor neun Generationen "sein Leben verlor", eine bedeutendere Person gewesen sein, verglichen mit den anderen Kriegern, vielleicht ein König. Dieser trug auch die Schuld für die Kämpfe. Ohne ein weiteres "ich sage diese Volkssage" als Einleitung, gibt Varin anschließend das Gedicht über Theoderich wieder, der sicherlich derjenige ist, der sein Leben verlor (PETERSSON).

Das Land der Reidgoten wird in den isländischen Sagen erwähnt. Der Ausdruck könnte eine poetische Umschreibung für das ostgotische Reich sein. Es gibt zahlreiche Versuche, das Gebiet der Reidgoten während der Völkerwanderungszeit genauer zu lokalisieren, beispielsweise an der südlichen Ostseeküste oder am östlichen Niederrhein (SCHMÖCKEL). Allerdings könnte der Begriff Reidgoten ("Die reitenden Goten") auch einfach ein Sammelname für nordländische Krieger sein (ENOKSEN).

Neun Generationen waren vergangen, nach PETERSSONs Interpretation wahrscheinlich ein symbolischer Zeitraum, wie er mit anderen Beispielen aus der nordischen Sagenwelt zu belegen versucht: In alten Zeiten konnte, laut Volksglaube, ein Bjäran genanntes Sagenwesen den Bauern, sein Gefolge und sein Vieh im neunten Glied aussaugen. In Findland (Finnland) wurden, laut dem Ethnologen Uuno Taavio Sirelius, die Vorväter "bis ins neunte Glied" eingeladen zur Julnacht, wo die Toten sich das auf dem Tisch übriggebliebene Essen nehmen konnten. Der Runenstein von Malsta im schwedischen Hälsingland zählt sieben Generationen auf.

Eine ganz andere Interpretation bietet BRANDT in seiner "Hypothesis of the Heruls". Seiner Auffassung nach waren Varin und Vämod Nachfahren der Königsfamilie der Heruler, eines germanischen Volksstammes. Die Königsfamilie und ein Teil des Stammes sind im frühen 6. Jahrhundert aus dem Gebiet der oberen Donau über Dänemark nach Schweden gewandert. Dort sollen sie nach Verschmelzen mit den heimischen Svear fortan eine zentrale Rolle in der weiteren Entwicklung Schwedens während der Vendelzeit (ca. 600-800) gespielt haben. Derjenige, der bei den Reidgoten infolge seiner Schuld starb, wäre Roduulf (= Rådulf, Rodger) gewesen, der legendäre König der Heruler, ein Waffensohn Theoderichs des Großen, des Königs der Ostgoten, von dem Varin als nächstes erzählt. BRANDTs Heruler-Hypothese hat Stärken und Schwächen. Gerade in jüngerer Zeit betrachten manche Forscher die Heruler nicht mehr als germanischen Volksstamm sondern einfach als mobile germanische Kriegerverbände (SIMEK).


Theoderichstrophe, Fortsetzung
Theoderichstrophe, Anfang

Tjodrik

"Tjodrik der Kühne, Häuptling der Seekrieger, herrschte über den Strand des Reidmeeres. Nun sitzt er gerüstet auf seinem gotischen Pferd mit dem Schild am Gürtel, der Höchste der Märinger."

Die Vorderseite wird mit einem im Versmaß Fornyrðislag gedichteten Gedächtnisvers über Tjodrik abgeschlossen. Im Reich der Ostgoten regierte vom Ende des 5. Jahrhunderts bis zum Jahre 526 Theoderich der Große. Die meisten Forscher meinen, daß der Tjodrik des Röksteins sehr wahrscheinlich mit Theoderich identisch ist. Setzt man ein Menschenalter mit etwas mehr als 30 Jahren an, so liegen zwischen der Herrschaftszeit Theoderichs im frühen 6. Jahrhundert, und der Errichtung des Röksteins im frühen 9. Jahrhundert genau jene zuvor erwähnten neun Generationen.

Die Ausgrabungen auf Helgö im Mälaren, westlich von Stockholm, zeugen von Verbindungen der Schweden zum Kontinent während des 5. und 6. Jahrhunderts. Über 70 römische Münzen aus dieser Zeit wurden gefunden, einige davon sind Prägungen von Theoderich dem Großen. Daher ist es glaubhaft, daß auch Varins Vorväter Kontakte zu Theoderichs Volk hatten. Auch die Ritterstatue Theoderichs, die Karl der Große im Jahre 801 von Ravenna an seine Residenz Aachen versetzen ließ, war in Skandinavien weithin bekannt. Sie stellte Theoderich dar, mit dem Schild über der linken Schulter hängend, und mit einer ausgestreckten Lanze in der rechten Hand. Für Varin und Vämod war dieser Herrscher vielleicht ein Idol (GUSTAVSON). Mehr noch, nach BRANDTs Heruler-Hypothese dürfte es sogar eine Beziehung zu den eigenen Vorfahren gegeben haben: Roduulf, der legendäre Herulerkönig, war ja ein Waffensohn Theoderichs.


Rökstein Rückseite
Ög 136 - Der Rökstein, Rückseite

Die zwanzig Könige

"Dies sage ich als das zwölfte, wo Gunns Pferd Futter sieht auf dem Schlachtfeld, dort wo zwanzig Könige liegen."

Mit der Vorderseite des Röksteins verlassen wir auch die Reidgoten. Auf der Rückseite begegnen uns neue Kämpfe, immer noch in Übersee, aber bedeutend näher (PETERSSON).

Varin hat nun begonnen, die Rückseite zu ritzen, und dabei neun Aussagen übersprungen, vom zweiten zum zwölften. Gunns Pferd ist eine poetische Umschreibung für den Wolf der Valküre, auf dem sie geritten kam. Es war auf dem Schlachtfeld, wo die Valküre gefallene Krieger heim nach Valhall holte.

Die Überlieferung berichtet, daß zwanzig Könige in der Schlacht ihr Leben ließen. Diese große Zahl gleichzeitiger Könige läßt vermuten, daß es sich dabei um Häradshäuptlinge (oder -könige) handelt, von denen auch Snorri Sturlason, der isländische Verfasser der Edda berichtet. Ein "Härad" ist in Schweden ein administrativer Bezirk. Die Bezeichnung stammt aus dem frühen Mittelalter und wurde auch für die ursprünglich "Hundare" (Hundertschaft) genannten Bezirke übernommen, die es in etwas kleinerer Form schon seit der Vendelzeit gegeben hat. Auch Varin ist möglicherweise ein solcher Härads- oder Hundarekönig gewesen. Im folgenden "dreizehnten" berichtet Varin, um welche Könige es sich handelte, und wo sie fielen.


Die Namen der Könige

"Dies sage ich als das dreizehnte, welche Könige auf Sjælland saßen während vier Wintern, mit vier Namen, Söhne von vier Brüdern. Fünf Valke, Rådulfs Söhne, fünf Reidulv, Rugulvs Söhne, fünf Haisl, Hords Söhne, fünf Gunnmund, Björns Söhne."

Diese Aussage, die mit der vorhergehenden eine Einheit bildet, wird sehr kontrovers interpretiert, sowohl die Herkunft der zwanzig Könige, als auch den Ort der Schlacht betreffend, in der sie fielen. Auch über die Bedeutung der aufgezählten Namen wird höchst unterschiedlich spekuliert.

PETERSSON vermutet, daß die hier erwähnten Geschehnisse wohl nicht in die Inschrift aufgenommen worden wären, wenn die Östergöten nicht involviert gewesen wären. Die Erwähnung hätte Vämod und seiner Familie sonst kaum Ehre gemacht.

Nach PETERSSON könnten es wohl zwanzig ostgötische Häradshäuptlinge gewesen sein, die nach Varins Darstellung auszogen in den Kampf gegen die Dänen auf Sjælland. Während des Mittelalters gab es zwanzig Härader in dem Landstrich um Rök, vielleicht auch zu Varins Zeit. Kommt es daher, daß es zwanzig Könige waren? Vierzig Kilometer östlich von Rök liegt der Valkebo Härad, die fünf Könige mit Namen Valke könnten von dort stammen.

OHLMARKS bezieht sich in seiner Deutung dieser Aussage auf eine Arbeit Otto Höflers, nach dessen Auffassung die zwanzig Wikingerfürsten, aufgeteilt in vier Brüderscharen zu jeweils fünf, keineswegs in Östergötland beheimatet waren, sondern auf die ringförmige Wikingerfestung Trelleborg bei Slagelse auf Sjælland anspielen müßten, mit vier Höfen innerhalb eines Ringwalls, mit jeweils vier Hallen auf einem Hof, zusammen mit dem Häuptling des Hofes als fünftem. Diese haben an einer blutigen Schlacht in Östergötland teilgenommen, und "Gunns Pferd", der Wolf, hat ihre Leichen gefressen. Varin würde hier also jüngste zeitgeschichtliche Ereignisse in sein Heldenepos einbeziehen. Allerdings ist diese Deutung inzwischen widerlegt: Die Errichtung des Militärlagers Trelleborg konnte 1979 durch dendrochronologische Untersuchungen eindeutig auf die Jahre 980/981, also während der Regierungszeit des dänischen Königs Harald Blauzahn, datiert werden, lange nach der Erschaffung der Rökinschrift.

Eine andere Erklärung für die Namen versucht BRANDT in seiner Heruler-Hypothese: Er löst die Aufzählung der Namen von der Aussage über die Könige auf Sjælland, und interpretiert sie als Abfolge der neun Generationen von der Zeit Theoderichs bis zu Varin und Vämod. Rådulf (= Roduulf, König der Heruler), Valke, Rugulv, Reidulv, Hord, Haisl, Björn, Gunnmund. Acht Generationen. Mindestens die vier ersten Namen in der Reihe sind typisch herulische bzw. gotische Namen. Gunnmunds Sohn, die neunte Generation, wäre dann Varin. Zugleich setzt BRANDT die neun übersprungenen Aussagen mit dieser Generationenfolge gleich: Die zweite Aussage bezieht sich auf die Reidgoten, die übersprungenen Aussagen drei bis zehn sind die acht Generationen von Roduulf bis Gunnmund, Nummer elf ist Varin selbst. Anschließend setzt Varin die Erzählung mit der zwölften Aussage über die zwanzig Könige fort.


Das Geschlecht Ingvalds und Ingvaldstorp

"Ich sage diese Volkssage, wer von der Ingvalds-Sippe durch das Opfer einer Ehefrau gesühnt wurde."

Ein paar Kilometer südlich der Kirche von Rök liegt Ingvaldstorp. Möglicherweise hat dieser Hofname den selben Ursprung wie die "Ingoldinge" des Röksteins. Ingvaldstorp kann ein abgelegener Hof gewesen sein, und in diesem Fall zum nahegelegenen Hejla gehört haben, welches ein uralter Ortsname ist, es fehlt die für jüngere Ortsnamen typische Endung auf -stad, -torp, etc. In den Randgebieten eines Dorfes durfte jeder Land beanspruchen und Höfe anlegen, die nach dem Erbauer benannt wurden und oft die Endung -torp bekamen. Wenn ein Hof mehrere Söhne hatte, dann zog wohl ein Teil von ihnen hinaus in die Randgebiete. Der Neubauer Ingvald war vermutlich von Hejla gekommen. Einer seiner Söhne wurde durch das Opfer einer Ehefrau gesühnt (PETERSSON).

Die folgenden, in Geheimrunen geschriebenen Zeilen, erzählen vom Gott Thor und von den übernatürlichen Menschen Sibbe und Vilen. Es liegt deshalb nahe, die Ingvalds-Sippe und ihr Frauenopfer als etwas über die Möglichkeiten gewöhnlicher Menschen hinausgehendes aufzufassen. Eine Frau wurde geopfert, damit ein Mann etwas bekommen sollte. Warum? Varin sagt, laut der linken Zeile auf der Rückseite, welcher Nachkomme gesühnt wurde. Die Antwort erfahren wir, wenn wir im Uhrzeigersinn lesen. Der Nachkomme hieß dann Sibbe. Dank des Opfers bekam Sibbe die Möglichkeit, ein hohes Alter mit voller Zeugungskraft zu erreichen. Der Sohn, dessen Vater er wurde, ist Vilen.

Die Strophe über die Ingvalds-Sippe ist aufgeteilt in zwei Zeilen, die erste mit jeweils elf Runen beiderseits einer Zweigrune. Die zweite Zeile hat vierundzwanzig Runen, also die selbe Anzahl Runen wie das urnordische Futhark mit dem die Zeile geritzt ist. Aber eigentlich sind es nur sechs Zeichen von den dreizehn verschiedenen, mit denen die Aussage geritzt wurde, die völlig mit dem urnordischen Futhark übereinstimmen. Alle "a" sind ersetzt durch "þ", welches im urnordischen Futhark vor dem "a" steht. Das "i" ist durch "j" ersetzt, nach dem selben System, ein Verschiebungsschlüssel. Der Ritzer verwendet urnordische Runen nach den selben Buchstabierungsprinzipien, die für Kurzzweigrunen gelten, "o" steht für o und u.

Auch diese Stelle interpretiert OHLMARKS ganz anders. Das zentrale Wort ist hier "hosli" = "husl". Nach GOLTHER wird damit ein Opfer als heilige Handlung bezeichnet, eine Übersetzung, auf der die meisten Deutungen dieser Textstelle basieren. OHLMARKS sieht hier einen Zusammenhang mit "hus", einer Bezeichnung für ein christliches Sakrament, das man immer im Haus erhielt, im Gegensatz zum programmatischen Freiluftcharakter des heidnisch-germanischen Kultes. Die genannte Ehefrau mußte die Taufe bekommen haben, eine Familienschande in einer heidnischen Zeit, als es noch keine christliche Verkündigung gab.

Und hier wird OHLMARKS' Deutung nun äußerst spekulativ: Die christliche Verkündigung in Schweden begann mit Ansgar, dem "Apostel des Nordens". Ansgars erste Missionsreise nach Birka, der Handelsstadt im Mälaren, im Jahre 829, fällt in die Zeit, in die auch die Rökinschrift datiert wird. Ansgars Schiff wurde im Kalmarsund aufgebracht, er mußte auf dem Landweg weiterreisen, über Vimmerby, vorbei am Tåkern-Gebiet (wo auch Rök liegt), nach Linköping. Kann er die Gelegenheit zum Handeln genutzt und den Glauben gepredigt haben, dort wo er durchfuhr, also auch in Rök-Ingvaldstorp, und kann Vämod Varinssohn (wahrscheinlich der "Kronprinz" der Sippe) eine Ehefrau gehabt haben, die "fiel" und sich taufen ließ? In diesem Fall traf die Strafe für ihre Sippenschande nicht in erster Linie sie selbst, sondern ihren Mann als Rechtssubjekt. Er wurde nicht gesühnt, sondern es wurde "mit ihm" gesühnt, man hat mit seinem Leben bezahlt für das Vergehen seiner Ehefrau.

Und vielleicht hat sein Vater Varin, den nicht nur OHLMARKS als den Häuptling und Opferpriester seiner Sippe sieht, das Todesurteil der heidnischen Gesellschaft an seinem eigenen Sohn vollstrecken müssen. Eine solch schreckliche Pflichtkollision wäre zweifellos ein angemessener Grund für die längste und bemerkenswerteste Runeninschrift der Welt gewesen.

Eine äußerst interessante, aber auch äußerst gewagte Deutung, die auf einer ganzen Reihe von rein spekulativen Annahmen gründet, die sich wohl niemals verifizieren lassen. Zweifel sind angebracht, die nicht zuletzt auch durch grobe Fehler in anderen Teilen von OHLMARKS' Deutung genährt werden.


Sibbe

Rökstein Oberseite

"Sibbe aus Vi zeugte neunzigjährig."

Diese Aussage, die auf der Oberseite des Röksteins steht, wird in den meisten Deutungen ans Ende der Inschrift gestellt. PETERSSON stellt sie etwas weiter nach vorne, wo sie sich stimmig in seine Interpretation einfügen läßt:

Kein "ich sage diese Volkssage" leitet diese Aussage ein, sie dürfte daher einen Zusammenhang zur Ingvalds-Sippe haben. Auf die selbe Art wie die drei Strophen der Vorderseite unter einer "Sage" gesammelt sind, so sind die Ingvalds-Sippe und Sibbe unter einer gemeinsamen "Sage" zusammengefaßt.

Die Oberseite des Runensteins ist auf mehrere Arten gedeutet worden: "Sibbe ritzte den Stein" wurde angeführt, aber dann wird es schwer, den Rest des Satzes zu deuten. Zu den gebräuchlichsten Übersetzungen gehören: "Sibbe, Vorsteher des Heiligtums" und "Sibbe aus Vi". Das "viavari" des Röksteins wird meist übersetzt als vi = Opferplatz, Heiligtum.

Ein Hof mit Namen Disevid, drei Kilometer von Röks Kirche entfernt, ist der einzige Ortsname in der Gegend, in dem die Namensendung -vi enthalten ist. Bei diesem Disevid gibt es einen großen Grabhügel, in dem ein mächtiger Mann begraben sein muß. Sibbe war ein mächtiger Mann.

Über vierzig Jahre alt dürfte die Frau kaum gewesen sein, als sie Sibbe das Kind gebar. Also muß Sibbe ein Mann mit hoher Rangstellung gewesen sein, wenn dieser alte Mann eine so junge Ehefrau erobern konnte.

Eine andere Deutung kann sein: Sibbe aus Väversunda. Nördlich vom See Tåkern in Dals Härad liegt Väversunda, dessen Name, der im Jahre 1279 Waevarsundom buchstabiert wurde, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem viavari des Röksteins hat.

Am wahrscheinlichsten ist vielleicht jedoch, daß Sibbe in Lysings Härad zu Hause war. Im 17. Jahrhundert gab es 2.5 Kilometer südlich von Röks Kirche einen Hof mit Namen Sebbery, eine dialektale Form von Sibberyd. Ryd bedeutet "roden" - "anlegen". Ortsnamen mit der Endung -ryd sind wahrscheinlich zuerst während der Wikingerzeit verwendet worden, aber erst im Mittelater wurde der Name allgemeiner verbreitet. Ryd wurde früher auch ri buchstabiert. Können möglicherweise die beiden letzten Runen im Wort viavari als "ryd" gedeutet werden, das später den Namen Sibberyd bekam, nach dem Mann, der dort lebte - Sibbe aus Vi?

Spätestens bei dieser Sibbe-Strophe hat OHLMARKS' Deutung keine glaubwürdige Grundlage mehr: Statt "sibi" (= Sibbe) liest er hier "sige". Sige ist der Name, unter dem Odin in der Völsungensaga auftritt, die OHLMARKS schon der Aussage über die beiden Kriegsbeuten zugrundelegt. Es ist Odin, der neunzigjährig einen Sohn zeugt, nämlich den in der folgenden Aussage genannten Vilen, den OHLMARKS wiederum gleichsetzt mit Vile = Thor.

Die Begründung ist geradezu abenteuerlich: Die fragliche "b"-Rune, die zur Lesung "sibi" führt (Abb. A, rot markiert, und B), sei eigentlich eine "k/g"-Rune. Der untere Zweig (Abb. C, rot markiert), der das "k/g" in ein "b" umwandelt, ist schwach, zu weit unten angesetzt, und "deutlich später hinzugeritzt", um den Namen des höchsten Gottes nicht dem gemeinen Volk auszuliefern.

Sibbe

Meiner Meinung nach ist diese Interpretation aus mehreren Gründen nicht haltbar: Zum einen dürfte es äußerst schwierig sein, "später hinzugeritzte" Teile einer Rune nachzuweisen. Und wenn das so "deutlich" wäre, wie OHLMARKS behauptet, dann wäre es sicher in über 100 Jahren Forschung längst aufgefallen. Außerdem wäre die Rune ohne den vermeintlich hinzugeritzten unteren Zweig trotzdem keine "k/g"-Rune (Abb. D, rot markiert). Dafür ist nun der obere Zweig zu weit oben angesetzt und viel zu kurz, verglichen mit den anderen in der Inschrift vorkommenden "k/g"-Runen (Abb. E). Zu guter letzt greift auch das Argument der Verschleierung des Odinsnamens ins Leere. Die fragliche Textpartie ist schon in Geheimrunen geschrieben, deren Sinn dem "gemeinen Volk" wahrscheinlich ohnehin entrückt war.


Vilen

"Ich sage eine Volkssage, wem ein Verwandter geboren wurde, einem jungen Krieger. Vilen ist es. Er konnte einen Riesen erschlagen. Vilen ist es. Nit."

Kann Varin auf den Riesen (schwedisch "jätte") im Ortsnamen Jättingstadt anspielen, fünf Kilometer von Rök entfernt? Der Name des Hofes ist auch auf einem in der Kirche von Heda eingemauerten Runenstein dokumentiert. Folglich war der Hof während der späten Wikingerzeit bewohnt, was kaum der Fall gewesen wäre, wenn man geglaubt hätte, daß sich dort ein Riese aufhalten würde. Vilen war sein Totschläger, er kannte ja den Namen des Riesen: Nid (Übel, böse). Nach altem Glauben war man überzeugt, daß man einen Riesen in seiner Gewalt hatte, wenn man dessen Namen kannte (PETERSSON).

In dieser Strophe über Vilen sind drei verschiedene Schriftsysteme enthalten. Sie beginnt mit einem Verschiebungsschlüssel, in dem jede Rune als die nächstfolgende im Futhark gelesen wird. ("Ich sage eine Volkssage, wem ein Verwandter geboren wurde, einem jungen ..."

Der Rest des Satzes, mit Rökrunen geschrieben, ist folgender: "... Krieger. Vilen ist es." Nach einem kleinen Trennzeichen fährt die Strophe fort mit Verschiebungsschlüssel: "Er konnte erschlagen einen ..."

Die nächste Zeile, wiederum mit Rökrunen, fährt fort mit "... Riesen. Vilen ist es."

Das Wort "nit" beendet die Aussage, mit Geheimrunen verschlüsselt, bestehend aus urnordischem "o" und "e", mit der Kurzzweigrune "s". Dies kann auch als "oossoossse" gelesen werden, ergibt so jedoch kein bekanntes Wort.

OHLMARKS, der hier Vilin = Vile = Thor liest, sieht in dieser Strophe eine Anspielung auf den Hrungnir-Mythos, in dem Thor den Riesen Hrungnir erschlägt, Thors edelste Heldentat. Den Namen bzw. das Wort "nit" erklärt OHLMARKS nicht.


Thor

Thor

"Ich sage eine Volkssage: Thor."

Diese ebenfalls in Geheimrunen geschriebene Aussage, die allein auf der langen Schmalseite des Steins steht und von oben nach unten gelesen wird, bildet in PETERSSONs Deutung den Abschluß der Inschrift.

Varin meint hier offensichtlich den Gott Thor, weil ein einziges Wort genügt. Wenn der Name Thor auf einen Menschen anspielen würde, sollte ein Geschehnis in den Satz mit eingegangen sein, das seine Aufnahme auf den Stein veranlaßt hätte. Die übrigen Aussagen betonen die Taten der Personen. Auch die Leserichtung steht in Kontrast: Alle anderen senkrechten Zeilen der Inschrift werden von unten nach oben gelesen. All der Kummer, der auf dem Rökstein niedergelegt ist, spricht für Varins Schritt, den Gott Thor anzurufen. Thor wurde nämlich als ein Beschützer von Runensteinen angesehen.

Schutz für den Bestand der Gedenksteine hat es immer gegeben. Ein frühes Beispiel ist der Stein von Björketorp in Blekinge, geschrieben mit urnordischen Runen im 5. Jahrhundert, auf dem der Ritzer Flüche ausspricht über den, der es wagt, das Denkmal anzurühren. Mit Runen beschriebene mittelalterliche Grabsteine drohen später mit Gottes Zorn über den, der die Überreste und damit den Stein stört.

Auf dem Runenstein von Sønder Kirkeby in Dänemark wird die Inschrift abgeschlossen mit "Thor weihe diese Runen". Auch auf jenem Stein verbirgt der Ritzer den Namen des Gottes Thor, allerdings mit schwerleslichen Einstabrunen.

OHLMARKS interpretiert diese letzte Aussage als ein flammendes heidnisches Glaubensbekenntnis an den durch die Taufe von Vämods Ehefrau gekränkten Thor, den starken Asen des Spät-Heidentums, den rotbärtigen Menschheitsbeschützer, der Christen Todfeind Nummer eins in der Schar der Asen.


Versuch einer Synthese

Die meisten Forscher waren bei ihren Deutungen der Rök-Inschrift in den Vorstellungen und Idealen ihrer eigenen Zeit gefangen. Sophus Bugges Abhandlung aus dem 19. Jahrhundert erzählt von kriegerischen Großtaten. Die Übersetzung Otto von Friesens aus den 1920ern hebt Erziehung und Ermahnungen an die Jugend hervor. Elias Wesséns Deutung einige Jahrzehnte später nimmt das Ehrende auf, sowie Varins Wunsch zu unterhalten und Rätsel zu stellen (Wie dies nun zusammenpaßt mit dem Tod seines Sohnes!). Auf diese Weise haben sich viele Forscher auch die Übersetzung so "zurechtgelegt", daß sie die eigenen Schlußfolgerungen stützen. Eine solche Anpassung ist z.B. die Deutung von "faigian sunu", wie von Wessén, Sven B.F. Jansson und anderen übersetzt mit "toten Sohn". Die richtige Bedeutung ist "vorausbestimmtter Tod" oder "vorzeitiger Tod". In "Elfen, Gnome und andere Wesen" schreibt Ebbe Schön 1987: "Die Müdigkeit, die deutlich größer und tiefer war als nach einer gewöhnlichen Erschöpfung, sah man als ein Zeichen, daß die fragliche Person 'feg', todgeweiht war. Das selbe Wort kommt auch im jüngeren Volksglauben vor. Es konnte heißen: - ich wußte nicht, daß er so 'feg' war. Das bedeutete, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Wenn jemand in der nächsten Nachbarschaft sterben mußte, geschah es, daß die Leute 'fegljus' ('feg'-Lichter) sahen, oftmals auf Grabhügeln. Im westschwedischen Bohuslän gab es 'fejmansvär', ein hartes Wetter, bei dem viele auf See umkommen sollten" (PETERSSON). Auch Jacob GRIMM schreibt in seiner Deutschen Mythologie von 1835: "ein mensch, über den naher unausweichlicher tod verhängt ist, heißst in der alten sprache feig."

Die Übersetzung des Akkusativs "faigian" lenkt auf diese Weise die Interpretation der Bedeutung der Rökinschrift. Wenn Vämod verurteilt war, nicht mehr lange zu leben, so wurde der Stein vielleicht in der Hoffnung aufgestellt, daß er überleben möge.

Welch krasser Gegensatz zwischen dieser Auffassung PETERSSONs und der Deutung OHLMARKS', nach der Vämod für das Vergehen, die Sippenschande seiner Ehefrau zum Tode verurteilt war, und sein Vater Varin dieses Todesurteil am eigenen Sohn vollstrecken mußte!

Die letzte Zeile der Kurzzweiginschrift. Die letzte Zeile in dem mit Kurzzweigrunen geritzten Teil der Inschrift ist größtenteils beschädigt. Vom Stein haben sich Splitter gelöst, wahrscheinlich als er im 19. Jahrhundert aus der Kirchenmauer gezogen wurde. Der unvollständige Satz läßt Spielraum für viele Interpretationen. Wahrscheinlich steht er im Zusammenhang mit der übrigen Kurzzweiginschrift. Der Runentyp und die Plazierung der Runenzeile sprechen dafür. Die gängige Übersetzung "Jetzt sage ich die Sagen vollständig..." kann PETERSSON nur schwer nachvollziehen: Varin hat die Sagen ja schon erzählt, und man kann sie kaum in einer Zeile zusammenfassen. Eine andere mögliche Übersetzung kann sein: "Jetzt sind alle Sagen gesagt, wie jemand aus dem Volk verlangt hat". Varin hätte in diesem Fall eine Erklärung gegeben für den Sprung von "das zweite" zu "das zwölfte": Er nennt nur diejenigen seiner numerierten Aussagen, die die Allgemeinheit als passend ansah, im Zusammenhang mit Vämods Tod. Eine weitere Alternative könnte sein: "Nun sage ich alle Sagen, wie die Asen verlangt haben". Die Antwort könnte dann in der Geheimschrift wiederzufinden sein, die an die Götter gerichtet war.

"sakumukmini". Nicht nur die beschädigte Zeile wurde vielfach unterschiedlich interpretiert. Auch die mehrfach vorkommende einleitende Runenfolge "sakumukmini" läßt sich auf zwei gleichermaßen plausible Arten übersetzen: "sagum ungmænni" - "ich sage dem jungen Manne/den Jungen" oder "sagum mogminni" - "ich sage eine Volkssage". Die erste Übersetzung stützt die "Rache-Theorie", die die Inschrift als eine Aufforderung an einen oder mehrere weitere Söhne Varins interpretiert, die gleichsam dem Gott Thor geweiht werden, Vämods Tod zu rächen. Die andere Übersetzung stützt die "Repertoire-Theorie", nach der Varin Großtaten aus der Vergangenheit seiner Vorfahren zum ehrenden Gedenken an seinen Sohn aufführt (Übersicht bei DÜWEL). Die weitgehend plausible Deutung PETERSSONs basiert auf der Repertoire-Theorie, geht aber noch weit darüber hinaus:

Die Botschaft. Die Vorderseite des Runensteins beschreibt nur Kämpfe im Reich der Ostgoten, der Hauptteil der Rückseite hingegen Kämpfe im dänischen Reich. Die kriegerischen Taten, von denen Varin sicher annahm, daß seine Vorväter daran teilgenommen hatten, sind niedergeschrieben, um Vämod zu ehren. All dies ist mit gewöhnlichen Runen geschrieben, zu dem Zweck, von den Lesekundigen der damaligen Zeit gelesen zu werden. Runen der gleichen Art werden als "Totenrunen" für Vämod verwendet und wenden sich an den gemeinen Mann.

Die Geheimrunen berichten dagegen nicht über Geschehnisse im Ausland. Namen und Orte scheinen mehr aus heimischen Gefilden zu stammen, der Gegend um Rök. Die Personennamen, Sibbe, Ingvald und Thor, finden wir auch auf anderen ostgötischen Runensteinen. Hinzu kommen Ortsnamen aus der Gegend von Rök: Ingvaldstorp, Sibberyd, Jättingstad, und eventuell Väversunda, welche mit dem Inhalt der Geheimrunen zu tun haben könnten. Andere Themen in diesen Aussagen sind auch Zeugung, Geburt und Verwandte. Die Kurzzweigrunen erzählen nur über den Tod!

PETERSSONs Annahme: In Lysings Härad herrschte der Häradshäuptling Varin. Sein Sohn Vämod war gestorben, ein Tod von dem Varin geahnt hatte, daß er nahe bevorstand. In jedem Fall verstand er nun im Nachhinein, daß der Tod vorherbestimmt war.

Es mußte etwas getan werden. Ein stattliches Denkmal für den Sohn, ihn selbst, und die großen Taten der Vorväter, jetzt, da seine Dynastie vieleicht bald zuende war. Das Denkmal sollte für ewige Zeit stehen. Das vier Tonnen schwere Monument, mehr als zwölf Ellen tief in den Boden eingesenkt, gab Varin eine gewisse Sicherheit, daß der Runenstein nicht umgekippt oder entfernt würde. Außerdem beschützt Thor den Stein bis ans Ende der Zeit.

Die Vorderseite des Steins schließt ab mit dem wohl abgestimmten Gedicht über Tjodrik. Die Rückseite wurde ganz anders als die Vorderseite. Varin überspringt neun Aussagen, bevor Odins Valküre ihren Platz als das zwölfte in der Inschrift einnimmt. Als Abschluß verwendet er noch Geheimrunen und bindet damit auch Magie/Zauberei in die Inschrift ein.

Varin will mit Hilfe der Geheimrunen die Götter milde stimmen. Gleichzeitig hat er sich berufen auf die großartigen Taten seiner Vorväter, das Opfer, und den Riesen, der erschlagen wurde. Was wollte er im Gegenzug dafür haben? Der Wunsch mußte mit Vämods Tod in Zusammenhang stehen.

Hatten die Vorväter eine Schuld auf sich geladen, für die nachfolgende Generationen leiden mußten? Vämod fand ja einen vorausbestimmten Tod. In seiner Anrufung der Asen versucht Varin den Fluch zu lösen, der über seiner Sippe liegt. Er hat wahrscheinlich noch einen weiteren Sohn, der, wie er selbst, einen vorzeitigen Tod sterben kann. Die Sippe hatte schon früher versucht, den Fluch von sich abzuschütteln, indem einer aus der Ingvalds-Sippe weiterleben sollte, um den Preis, daß seine Ehefrau geopfert wurde. Der genannte Verwandte war Sibbe, der dank dieses Opfers über 90 Jahre alt werden und außerdem noch einen Sohn zeugen durfte - Vilen.

Wenn die Absicht hinter der Inschrift nur magisch gewesen wäre, dann hätte man ein leichter zu handhabendes Material als Stein verwenden können. Varin hätte den selben Nutzen aus der Inschrift gezogen, aber bedeutend einfacher. Das Andenken der Sippe war also mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar die zentrale Absicht des Denkmals. Varin war vielleicht nicht ganz so überzeugt von der Wirkung der Magie; schlug sie nicht so gut an, so lebte auf jeden Fall das Andenken durch den Runenstein weiter. Für Varin war dies bestimmt nicht die erste Gelegenheit, die Möglichkeiten der Magie auszuprobieren. Er hatte sicher erfahren, daß die Götter ihm nicht immer zu Willen waren. Aber dies war der letzte Strohhalm zum greifen. Varin hat ja selbst durch seine Erzählungen auf dem Stein gezeigt, daß das fast unmögliche geschehen konnte. Er sah eine Chance, den Fortbestand seiner Sippe zu retten.

Hinsichtlich der Ursache für die Sippenschande, den von PETERSSON postulierten Fluch über seiner Sippe der Ingvaldinge, ließe sich eine Brücke schlagen zu BRANDTs Heruler-Hypothese: Roduulf, der legendäre König der Heruler, den BRANDT als Urahn Varins und Vämods annimmt, war ein Waffensohn Theoderichs des Großen, des verehrten Königs der Ostgoten. Diese enge Beziehung gründete wohl nicht zuletzt auf einem Stillhalteabkommen, in dem sich Roduulfs Heruler zur Mäßigung gegenüber ihren Nachbarstämmen verpflichteten. Sie sollten nur Tribute kassieren, die kriegerischen Überfälle der jüngeren Vergangenheit jedoch künftig unterlassen. Dieses Abkommen wurde von einer Schar Heruler entgegen Roduulfs Verpflichtung gebrochen. Sie griffen die benachbarten Langobarden an, scheinbar unmotiviert und schlecht vorbereitet. Die Langobarden brachten andere benachbarte Stämme auf ihre Seite, es kam zu einer Schlacht auf dem Marchfeld, wahrscheinlich im Jahr 508 oder 509. Die Heruler verloren, Roduulf wurde getötet, und die königliche Sippe floh mit einem Teil des Stammes in Richtung Skandinavien.

Es könnte also durchaus Roduulf gewesen sein, der vor neun Generationen bei den Reidgoten sein Leben verlor, der bei ihnen infolge seiner Schuld starb. Wie nach OHLMARKS' Interpretation mit Vämods Leben für das Vergehen seiner Ehefrau bezahlt werden mußte, so mußte mit Roduulfs Leben für die Verfehlung seiner Sippe bezahlt werden, eine Sippenschande, die der stolzen Königsfamilie noch neun Generationen nachgehangen haben mag, bis in eine Zeit, in der es die Heruler längst nicht mehr gegeben hat, nur noch ihre stolzen Nachfahren.

Kein Ende. Es bleibt dabei: Die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Zu weit entrückt sind uns die Sagen, die Varin in seiner gewaltigen Inschrift erzählt, die allgemein als das erste große literarische Werk Schwedens betrachtet wird. Andere Überlieferungen dieser Sagen sind uns heute nicht mehr bekannt. Auch auf dem Runenstein von Sparlösa in Västergötland, dessen Inschrift etwa aus der selben Zeit stammt, werden Sagen erzählt, allerdings andere, genauso rätselhafte, und nicht in dem Umfang wie auf dem Rökstein. Es ist nicht völlig auszuschließen, aber doch sehr unwahrscheinlich, daß noch weitere Runensteine entdeckt werden, die uns Antworten geben auf die verbliebenen Rätsel in Varins Werk. Und solange noch Rätsel bleiben, wird es auch keinen völligen Konsens geben, wird der Rökstein auch weiterhin unsere Phantasie anregen und zu neuen Spekulationen einladen.


Quellen und weiterführende Literatur

  • BRANDT, Troels (o.J.): The Hypothesis of the Heruls.

  • DÜWEL, Klaus (2001): Runenkunde. 3. Auflage. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar.

  • ENOKSEN, Lars Magnar (2004): Fornnordisk mytologi enligt Eddans lärdomsdikter. Historiska Media, Lund.

  • GOLTHER, Wolfgang (1895): Handbuch der Germanischen Mythologie. Neudruck 2003. Fourier Verlag, Wiesbaden.

  • GRANDIN, Ludvig (1992): Rökstenens gåta. Riksantikvarieämbetet, Stockholm.

  • GRIMM, Jacob (1835): Deutsche Mythologie. Neudruck 2003. Fourier Verlag, Wiesbaden.

  • GUSTAVSON, Helmer (o.J.): Rökstenen. Svenska kulturminnen 23. Gedruckt 2000. Riksantikvarieämbetet, Stockholm.

  • OHLMARKS, Åke (1978): 100 Svenska Runinskrifter. Bokförlaget Plus, Borås.

  • ORRLING, Carin (Red.) (1995): Vikingatidens ABC. Statens Historiska Museum, Stockholm.

  • PETERSSON, Conny L.A. (1991): Rökstenen - Varins Besvärjelse. Noteria Förlag, Klockrike.

  • SCHMÖCKEL, Reinhnard (Hrg.)(2006): Der Berner - Mitteilungen des Thidrekssaga-Forums e.V., Nr. 22.

  • SIMEK, Rudolf (1995): Lexikon der germanischen Mythologie. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart.



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